RHI Magnesita: Routenplaner Richtung Zukunft

Ein Projektbericht aus der Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer IAO

Wie sieht der Markt im Jahr 2050 aus? Wie sichert man den Erfolg und stärkt zugleich die Nachhaltigkeit? Auf der Suche nach einer Zukunftsstrategie wandte sich RHI Magnesita, Weltmarktführer im Feuerfestbereich, an das Team »Advanced Systems Engineering« des Fraunhofer IAO. Das Ergebnis ist eine detaillierte Technologie-Roadmap, die dem Unternehmen den Weg in die Zukunft weist.

Wenn künftige Historikerinnen und Historiker einmal die Technologiegeschichte des 21. Jahrhunderts aufschreiben werden, dann in zwei Kapiteln, da ist sich Luis Bittencourt, CTO von RHI Magnesita, sicher: Das erste spielt vor der »Grünen Revolution«, das zweite danach. »Der Klimaschutz zwingt uns, grundsätzlich umzudenken«, sagt Bittencourt. Als Leiter der Abteilung Forschung & Entwicklung und Mitglied des Vorstands von RHI Magnesita steht Bittencourt beim Ringen um eine Reduzierung von CO2-Emissionen gewissermaßen an vorderster Front: Zu seinen Aufgaben gehört es, den Wandel im Unternehmen voranzubringen. Ob Grüner Wasserstoff, smarte Sensoren oder neue Recyclingmethoden: »In 20 Jahren werden wir Technologien nutzen, von denen wir heute noch gar nichts wissen.« Man könnte einen solchen Paradigmenwechsel als Risiko sehen. Luis Bittencourt, der seit 32 Jahren für RHI Magnesita tätig ist, begreift ihn als Chance: »Wer die ökologische Wende frühzeitig einleitet, hat morgen die Nase vorn.«

So betrachtet, geht es für RHI Magnesita auch um den Klassenerhalt: Das Unternehmen mit Hauptsitz in Wien ist Weltmarktführer im Bereich der feuerfesten Werkstoffe. Diese speziellen Keramiken halten extremen Temperaturen stand und kommen bei der Produktion von Zement, Stahl, Aluminium, Kupfer oder Glas zum Einsatz. Im Jahr 2021 zählte RHI Magnesita 28 Produktionsstandorte und lieferte seine Produkte – sogenannte Refractories – in mehr als 125 Länder aus. 12 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erwirtschafteten dabei einen Gesamtumsatz von 2,6 Milliarden Euro. Mit anderen Worten: Wenn irgendwo auf der Welt Zement, Stahl oder andere Werkstoffe gefertigt werden, sind dabei wahrscheinlich Refractories aus dem Hause RHI Magnesita im Einsatz.

Doch mit den globalen Umwälzungen – von Digitalisierung bis Klimawandel – wächst im Unternehmen die Erkenntnis: Will man die Erfolgsstory – die 1834 im preußischen Podejuch begann – künftig fortsetzen, muss man umsteuern. Erst im Februar 2022 hat die Europäische Union einen neuen Kriterienkatalog vorgelegt, der den Weg zur klimaneutralen EU bis 2050 ebnen soll. Und das CO2-Einsparpotenzial der Branche, für die RHI Magnesita tätig ist, ist enorm. Das geht aus einem UN-Bericht über »Nachhaltiges Bauen« von 2020 hervor. Demnach ist die Bau- und Gebäudewirtschaft derzeit für rund 38 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Der Branche – und ihren Zulieferern – kommt eine Schlüsselrolle auf dem Weg zu mehr Klimaschutz zu.

Grüner Wasserstoff, Smarte Technologien und Recycling als Gamechanger

Auf dem Weg zu einer Reduzierung von CO2-Emissionen der Schwerindustrie sind auch Zulieferer wie RHI Magnesita gefragt. So könnten Stahl, Zement und andere Materialien künftig nachhaltiger produziert werden. Im Gespräch sind hier – neben grünem Wasserstoff als Energiequelle – vor allem Keramiken, die noch höheren Temperaturen standhalten und somit länger in der Produktion genutzt werden können. Auch der Einsatz von Recyclingmaterial anstelle von Quarzkies und Quarzsand kann helfen, die Produktion von Feuerfestmaterialien nachhaltiger zu gestalten. Hinzu kommen Modernisierungsprozesse auf Kundenseite wie der Ausbau smarter Technologien in Stahlwerken, die Auswirkungen auf die Produkte oder Services von RHI Magnesita haben können.

»Veränderungen finden auf allen Ebenen statt, das macht die Suche nach einer Strategie so kompliziert«, sagt Erwan Gueguen. Als Head of Innovation and Refractory Technologies bei RHI Magnesita gehört er zu einem Stab von mehr als 540 Expertinnen und Experten an fünf Standorten weltweit, die sich vor allem mit Materialforschung beschäftigen. 2018 entwickelte Erwan Gueguen zudem mit einem Team Nachhaltigkeitsziele wie eine Reduktion von Energieverbrauch und CO2-Emmissionen sowie die Erhöhung des Anteils von Recyclingmaterial in der Produktion. »Wir haben in den vergangenen Jahren viele wichtige Innovationen auf den Weg gebracht«, sagt Erwan Gueguen. »Doch was uns fehlte, war eine umfassende Unternehmensstrategie, die alle künftigen Entwicklungen von Markt und Technologie berücksichtigt.« Und so machten sich Luis Bittencourt und Erwan Gueguen auf die Suche nach einem Partner, der eine solche Strategie entwickeln kann. Das war Anfang 2020.

Eine Technologie-Roadmap als Wegweiser in die Zukunft

Rund anderthalb Jahre später, im Juli 2021, hielten Bittencourt und Gueguen ein Strategiepapier in der Hand, das dem Unternehmen den Weg in die Zukunft weist. Es gibt detailliert Auskunft darüber, wie sich Märkte und Technologien wahrscheinlich entwickeln werden – und was das konkret für das Unternehmen bedeutet. Kernstück des Papiers ist eine Technologie-Roadmap, die aufzeigt, zu welchem Zeitpunkt in Zukunft welche technische Modernisierung nötig sein wird. »Für uns ist das wie ein Routenplaner in die Zukunft«, sagt Erwan Gueguen.

Das Strategiepapier und die Technologie-Roadmap sind das Ergebnis der Zusammenarbeit von RHI Magnesita und dem Team »Advanced Systems Engineering« am Fraunhofer IAO in Stuttgart. Über Monate hinweg hat ein Team aus dem Forschungsbereich »Cognitive Engineering and Production« des Fraunhofer IAO Branche und Unternehmen penibel unter die Lupe genommen: Wie ist RHI Magnesita aufgestellt? Welche Marktentwicklungen sind mittelfristig zu erwarten? Welche technischen Innovationen werden die Branche künftig verändern? Es sind Fragen wie diese, denen das Forschungsteam nachging.

»Der Schwerpunkt unserer Arbeit ist die Analyse komplexer Systeme«, sagt Marco Kayser, der das Projektteam am Fraunhofer IAO geleitet hat. Das können Produkt-Service-Systeme in der Automobil- oder Medizinindustrie sein oder, wie in diesem Fall, in der Feuerfest-Industrie. »Unser Ziel ist es, auf der Basis umfangreicher Daten, ein möglichst präzises Bild von der Zukunft der Branche – und des jeweiligen Unternehmens ­– zu zeichnen«, sagt Kayser. Dabei kommt eine spezielle Simulations-Software zum Einsatz, die mithilfe von Algorithmen die Entwicklung komplexer Systeme unter bestimmten Bedingungen errechnen kann. »So entwickeln wir im Auftrag unserer Kunden Zukunftsszenarien, aus denen sich klare Handlungsempfehlungen ableiten lassen«, so Kayser.

Zukunftsszenarien auf der Basis von Datenanalysen und Interviews

Dabei gilt: Je besser die Datenlage, desto präziser das Szenario, das Kayser und seine Kollegen errechnen. »Wir nutzen Informationen aus den unterschiedlichsten Quellen«, sagt Stephan Schüle aus dem Projektteam des Fraunhofer IAO. Daten zur demografischen Entwicklung oder zur Urbanisierung weltweit etwa können helfen, globale Marktentwicklungen zu prognostizieren. Die Analyse nationaler und internationaler politischer Entwicklungen trägt zu einem Verständnis der zu erwartenden rechtlichen Rahmenbedingungen bei. Klimaschutzgesetze etwa können den Markt massiv beeinflussen – und notwendige Modernisierungen deutlich beschleunigen.

Zentral für eine valide Prognose ist zudem ein Verständnis für Entwicklungen in der Feuerfestbranche und – damit verbunden – auch etwa in der Stahl- oder Zementbranche. So deutet zum Beispiel einiges darauf hin, dass die globale Nachfrage nach noch härteren, noch beständigeren Materialien steigen wird. »Produktionsprozesse und Technologien werden sich diesem Bedarf anpassen müssen«, sagt Stephan Schüle. Weitere Innovationstreiber seien Klimawandel und Digitalisierung: Welche Rolle wird Grüner Wasserstoff spielen? Welche digitalen Technologien werden sich durchsetzen? Und wie lässt sich der Anteil von Recyclingmaterial drastisch erhöhen? »Im Mittelpunkt steht für uns die Frage, welche smarten und nachhaltigen Lösungen sich in Zukunft durchsetzen werden – und was das für die Produktion bedeutet«, so Schüle.

Wer sich so tief ins Thema fräsen will, wie Marco Kayser, Stephan Schüle und ihr Team, kann das nicht auf der Basis von ein paar Studien tun. Ein zentraler Bestandteil der Recherche waren deshalb die zahllosen Telefonate und Videocalls ­– coronabedingt waren persönliche Treffen kaum möglich – mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von RHI Magnesita. »Im Rahmen dieser Gespräche konnten wir hinter die Kulissen des Unternehmens schauen, um zu verstehen, wie Innovationsprozesse ablaufen. An dieser Stelle sind wir darauf angewiesen, dass die Leute Vertrauen zu uns fassen und offen auch über das sprechen, was vielleicht noch nicht optimal läuft«, sagt Kayser. Im Falle von RHI Magnesita sei dies der Fall gewesen. »Der Vorstand stand von Anfang an voll hinter dem Projekt, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darin bestärkt hat, sich zu beteiligen.« Hinzu kamen Interviews mit Externen – aus Materialforschung bis zur Sensorexpertise. »Diese Expertengespräche sind ein wichtiger Bestandteil unserer Recherche«, sagt Stephan Schüle. »Sie helfen uns, aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Branche zu blicken, was für ein umfassendes Verständnis für zu erwartende Entwicklungen unerlässlich ist.«

»Uns hat der interdisziplinäre und wissenschaftliche Ansatz des Fraunhofer IAO von Anfang an überzeugt«, sagt Erwan Gueguen, für den mit der Fertigstellung der Technologie-Roadmap die Arbeit im Grunde erst begonnen hat: »Unsere Aufgabe ist es nun, die in der Roadmap aufgelisteten Schritte zu prüfen und umzusetzen.« Zu diesem Zweck setzen sich alle zwei und alle sechs Monate Teams zusammen, um den Innovationsprozess im Unternehmen zu steuern. »Alle, die ich hier erlebe, sind begeistert, weil sie sehen, dass wir ein konkretes Ziel für das ganze Unternehmen verfolgen«, sagt Gueguen. Und nicht nur innerhalb des Unternehmens komme der Innovationskurs gut an: »Unsere Kunden und Partner freuen sich auch, dass wir an vielen Stellen die Initiative ergreifen und neue Lösungen für morgen suchen«, sagt Luis Bittencourt. »Am Ende profitieren ja auch sie davon.«